Text von Jürgen May, anlässlich der Ausstellung 30 Under 30 – Young Entrepreneurs, 2019:
In Deutschland stehen den Arbeitnehmern durchschnittlich 28,9 Urlaubstage im Kalenderjahr zu, plus Feiertage kann sich dies abhängig vom Bundesland zu maximal 41,8 Tagen summieren¹. Diese gesetzlich geregelte Freizeittaktung entspricht salopp formulierte jenen Tagen im Jahr, die der Tagelöhner individuell gestalten kann, ohne an den täglichen Broterwerb denken zu müssen. Um eine größtmögliche Distanz zur Alltagswelt zu gewinnen, ist das Reisen die Möglichkeit schlechthin, um die Freizeit zu verplanen. Im Jahr 2018 verreisten über 70 Millionen Deutsche ins Ausland.²
Doch entzieht sich damit niemand den Blicken der Gesellschaft, denn selbst beim Reisen kann der erfolgsorientierte Mensch Gewinn verzeichnen. So kann der Karriere auch im Ausland ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet werden, indem durch eine exquisite Wahl sein Interesse am Unbekannten suggeriert wird. Erfolge auf Reisen sind eher auf der symbolischen Ebene zu verbuchen; finanzielle Entschädigungen werden ausnahmsweise nicht angestrebt. Umso mehr müssen Anekdoten und Erfahrungen gesammelt werden, um bei der Rückkehr in die Heimat von der Ferne schwärmen zu können und damit die eigene Persönlichkeit durch eine Prise des Exotischen aufzuwerten.
Eine Reise versteht sich zunächst von selbst. Der Körper wird aus dem gewohnten kulturellen Kontext für eine bestimmte Zeit gelöst und – dank Reiseagenturen und fortschreitenden Tourismusverbänden – in einen fremdländischen aber weitestgehend sicheren Ort verlegt. Mit der eigenen Kultur im Rücken kann dann die Fremde betrachtet werden. Vornehmlich werden nicht an den Problemen der Kulturdifferenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen angeknüpft, da unter dem Aspekt einer gewissen Unterhaltungskultur auch gewisse Leerstellen erhalten bleiben. Der unmittelbare Erlebnisraum muss fließend in eine Bespaßung übergehen. Ebenso scheint es geboten zu sein, die diplomatischen und politischen Diskrepanzen im Urlaubsland auszublenden.
Die Zeitspanne, in der sich das Individuum als Reisender oder Beurlaubter definieren darf, sollte im besten Fall keine Verbindung zum Alltäglichen vermuten lassen, es soll eine Berieselung durch Kulturen erfolgen und weniger eine reflexive Auseinandersetzung mit diesen. Der Reiz liegt in einer rein oberflächlichen Betrachtung.
Diese Betrachtungsweise ist ohne die Fotografie undenkbar geworden. Zum einen wird durch die eigene Dokumentation die Reise belegt, zum anderen kann so ein Objektiv zwischen dem Eigenen und dem Fremden geschoben werden. Als Ergebnis dieser Reise werden analoge oder digitale Fotoalben erstellt, kleine private Archive, die die gescheite Bildung für unterwegs selbst zertifizieren. Diese allgemein sozial anerkannte Selbstinszenierung in der Freizeit ist einerseits Beleg der vergangenen Unternehmungen, andererseits setzt es die bestimmenden Punkte fest, über die sich in der Heimat weiterhin unterhalten werden kann. Nur so wird diese Alltagsferne weiter diskutiert oder thematisiert: an Diaabenden in privaten Kreisen oder auf dem Smartphone unter Kollegen, um den Erfolg der Reise ohne Widerspruch vorzuweisen.
Der Künstler Erik Arkadi Seth begibt sich ebenfalls auf Reisen, ausgerüstet mit Smartphone, Kameras, Laptop und weiteren technischen Tools, doch wandert er nicht auf den Pilgerwegen des touristischen Konsums, um sich an der Scheinferne eines hashtaggeleiteten Reisekitsches zu ergötzen. Vielmehr spürt er mit seinem künstlerischen Blick den Produktionsprozessen solcher Reisefotografien nach. Somit ist die Landschaftsfotografie ein signifikanter Teil seines Oeuvres, doch mit einer anderen Konnotation. Mit einem Blick auf das Gesamtwerk, dass der Künstler Seth bisher geschaffen hat, wird deutlich, dass ihn nicht allein der ästhetische Aspekt antreibt, sondern vor allem die Produktionsbedingungen³. Es kommt zuweilen vor, dass er dem Phänomen der Fotografie nachgeht, das spätestens durch Smartphonekameras nur noch unbewusst, gar automatisch abläuft und als solches nicht mehr wahrgenommen wird, gar banalisiert wurde. Es gilt, die Photographie in ihren Rudimenten auszumachen oder bei anderen Möglichkeiten zu kreieren. Dabei spürt der Künstler den Strukturen des Aufnahmemomentes nach, ehe er sie namentlich definiert.
Erik Arkadi Seth ist sich dabei bewusst, dass seinem Bildarchiv auf visueller Ebene in erste Linie das Klischee des Tourismus anhaftet. Deshalb entwickelte er das Konzept der transit.tours art travel agency. Unter diesem Titel vereint der Künstler mehrere Arbeiten wie auch laufende Projekte, die in ihrer Fortsetzung der Digitalisierung zu einer Plattform heranwachsen sollen. Damit ist es in erster Linie eine Möglichkeit, die viele verschiedene Ansätze erlaubt.
Hierbei geht die Praxis der Fotografie und die des Reisens Hand in Hand, da sie sich grundlegend in der Erfahrbarkeit signifikant überschneiden. Sowohl das Reisen wie auch das Fotografieren sind von einer fragmentarischen Momenthaftigkeit geprägt; will der Künstler der Reisekultur die ästhetische Erfahrbarkeit zusprechen, muss er die Erlebniskultur mit einer offenen Kommunikationsstruktur freilegen. Im Fall des Kunstwerkes transit.tours Messestand (2018) als Satellit der transit.tours art travel agency wird die Lust am Erlebnis durch eine prozessuale Orientierung in der sozialen Auseinandersetzung mit dem Künstler neu definiert. Die Wanderlust wird ästhetisch artikuliert, indem sich die potenziellen Kunden auf diese Erfahrung einlassen und unbewusst mit dem Künstler die Erkenntnis der Reise in einem subjektiven Narrativ umwandeln. Das Posieren für sowie das Auslösen des Apparates werden als indizielle Erfahrungen des verreisten Leibes im permanenten Austausch mit dem „Sein vor Ort“ und der Erwartungshaltung des „Dort-Seines“ erforscht.
Dies bedeutet, dass die Teilnehmer einerseits in der Ordnung verhaftet und als Touristen Fremde bleiben, anderseits den Leib durch die erweiterte Kommunikation durch den Künstler mit Fremde neuverorten können, ohne im Fragment der Aufnahme unmittelbar verfangen zu sein. Im Spiel verschwindet nicht der Unterschied zwischen Reisekultur und ästhetischer Produktion. Vielmehr wird diese Trennung als künstlerische Produktion angestrebt.
- hrperformance-online.de/news/urlaubstage-2018-so-viel-urlaub-haben-beschaeftigte-in-deutschland (07.06.2019)
- de.statista.com/statistik/daten/studie/151947/umfrage/anzahl-der-urlaubsreisen-in-deutschland-seit-2005 (07.06.2019)
- https://erikseth.de